Eine Rezension zum Beethoven-Zyklus mit Michael Nuber
Hier eine im Mai 2019 bei Amazon eingestellte Rezension zum Beethoven-Zyklus mit Michael Nuber. Als Ausführender oder Produzent einer CD etwas zu deren künstlerischen oder technischen Qualitätiv zu sagen ist heikel. Es gibt immer den Beigeschmack einer Bewerbung ... Somit soll hier zum großen Beethoven-Projekt nur der subjektive Eindruck eines persönlich "Unbeteiligten" sprechen:
Experiment gelungen - Hörer positiv beunruhigt
Ich habe den vollständigen Beethoven Klaviersonaten-Zyklus mit Michael Nuber erworben. Zunächst habe ich (vielleicht etwas zu schnell) den gesamten Marathon auf mich genommen, was mich tatsächlich etwas verstört zurückgelassen hat. Nach einer längeren Pause habe ich dann mit ausgewählten Sonaten wieder angefangen. Anstatt aber einzelne Eindrücke ausführlich zu schildern, möchte ich hier meinen Gesamteindruck mitteilen, wobei es mir weniger auf die klassischen Elemente des pro und contra ankommt, sondern vielmehr darauf, den Wahrnehmungsprozess zu schildern.
Zunächst zum Klang: Für meine Begriffe kann man ein Klavier wohl nicht besser oder zumindest meinem Hörverständnis und Hörerwunsch nach nicht gemäßer aufnehmen. Dieser ungeschminkte, ungefilterte, natürliche und ehrliche Klavierklang begeistert mich! Der Klang ist teilweise verhältnismäßig nüchtern, manchmal eher trocken, immer sehr präsent („closely miked“) und kaum nachträglich aufgehübscht, aber gerade das macht einen guten Teil meiner Freude an den Aufnahmen aus. Es werden unterschiedliche Instrumente eingesetzt: meistens ein Feurich 230 mit deutlich zu unterscheidenden Registern, nie hart, klirrend oder dröhnend, sondern warm, konturiert, stellenweise leuchtend; zudem ein durchsetzungsstarker Steinway 275 u. a. für die Hammerklaviersonate und die letzte Sonate op. 111 sowie ein erstaunlich frisch klingender Bösendorfer 275.
Publikumsgeräusche sind zwar immer wieder mal vernehmlich hörbar, aber das trägt eher zur spannungsreichen Liveatmosphäre des Konzerterlebnisses bei, welches einem in diesen Aufnahmen geboten wird. An manchen Stellen gewinnt man den Eindruck, dass mit einer neuen Sequenz, einem Beleuchtungswechsel in der Komposition und im Spiel des Pianisten auch eine aufatmende oder vor gesteigerter Aufmerksamkeit sozusagen auf die Stuhlkante ziehende Bewegung durch das Publikum geht.
Die Interpretation und das Spiel Michael Nubers selbst sind dagegen eine zwiespältige Sache. Die teilweise ungewöhnlichen und gewagten Tempi - gewagt in beiden Richtungen, von überstrapazierender Ausreizung der Eigentümlichkeiten bestimmter Sätze bis zu momentaner technischer Überforderung – irritieren zuweilen, und damit zusammenhängend eben die zwischenzeitlichen manuellen Unzulänglichkeiten. Freunde des gepflegten Beethoven-Spiels auf höchstem Niveau von Arrau über Kempff und Brendel bis Pollini kann man mit den Aufnahmen von Nuber nicht gewinnen. Man ist geschockt und empört bei diesen Stellen – so verwöhnt und manchmal vielleicht auch auf hohem Niveau gelangweilt ist man von der namhaften Konkurrenz –, und auch den Wohlwollendsten verdrießen sie, weil in diesen Momenten klar wird, dass diese oder jene Aufnahme Nubers von der einen oder anderen Sonate wieder nicht für sich allein stehen kann und immer noch mindestens einer Referenzaufnahme bedarf. Das ist bedauerlich, aber vielleicht besteht der Anspruch der Aufnahmen Nubers eben auch gar nicht darin, Referenz zu sein. Tatsächlich sind sie Ausnahmeerscheinungen.
Zugleich haben sie nämlich, angefangen von den bewusst gesetzten Parametern der Produktion bis zur eigenwilligen künstlerischen Umsetzung, einen einzigartigen Werkstatt- und Experimentiercharakter. Manche Sätze oder Passagen meint man tatsächlich zum ersten Mal oder doch ganz neu zu hören. Sperrig und unbequem und dann auf einmal entsetzlich einfach und berückend schön kommen manche Stellen daher. Letztlich überwiegt dann meistens aber, nun ja, nicht gerade die Frustration, aber ein leichtes missbilligendes oder abwehrendes Kopfschütteln. Man empfindet die kleinen Unzulänglichkeiten als Konzentrationsfehler, und das möchte man irgendwie nicht und sperrt sich folglich gegen das Ganze.
Und doch! Legt man danach die Aufnahmen der oben besagten Tastenheroen auf, findet man sie bei aller Brillanz auf einmal irgendwie öd und fad. Die Nuber-Erfahrung hat etwas mit einem gemacht. Sie hat den Hörer als einen anderen zurückgelassen, als er vorher war. Und was kann man von der Aufnahme einer Beethoven-Sonate bei dem überreichen Angebot an Gesamt- und Einzeleinspielungen letztlich Positiveres sagen? Es ist eine eigentümliche Energie in den Interpretationen und Aufführungen von Michael Nuber, die eine anregende und beunruhigende Spur hinterlässt. Zurückkehren lässt sich danach so richtig nur zu den alten Aufnahmen von Artur Schnabel. Hochglanzausgaben wie diejenige von Rudolf Buchbinder aus der Semperoper funktionieren danach jedenfalls nicht mehr.
Der Politologe und Philosoph Robert Nozick hat einmal in einer Art kleinem Kulturlamento den Mangel an Konzentration oder die starke Abnahme an der Fähigkeit zu großer Konzentriertheit im Sinne von Reichtum, Tiefe und Intensität in Kunst und Kultur bedauert, dann aber doch eingeräumt, es gäbe das schon noch, Kurosawas „Ran“ und Bergmans „Fanny und Alexander“ seien Beispiele dafür, dass es nach wie vor Künstler gebe, die offenbar äußerst lange und mit Gewinn über eine Sache nachgedacht hätten.
Genau diesen Eindruck habe ich abschließend auch bei den Beethoven-Aufnahmen von Michael Nuber: dass hier jemand besonders lange über eine Sache nachgedacht hat und mit einem kompromisslosen Resultat zum Hörer kommt, unabhängig davon, ob er, der Interpret, dem persönlichen Verständnis des jeweiligen Werkes technisch (zumindest an dem jeweiligen Konzert- und Aufnahmetag) ganz gewachsen ist, und unbekümmert darüber, ob dem Zuhörer so manche Übertreibung und Überspanntheit wohl gefallen oder ihn nicht sogar überfordern mag. Somit ist für mich gar nicht Spontaneität der große Vorzug der Live-Aufnahmen Nubers, sondern vielmehr die Zumutung, die in manchen der Werkdeutungen liegt, was Tempo, Dynamik, Stimmenbalance, Hervorhebungen von Übergängen und überhaupt die gesamte Dramaturgie betrifft.
Nuber scheint wirklich dem Wesen der Werke nachzuspüren. Das mag dann, wie auch bei seinen Schubert-Aufnahmen, vielleicht nicht immer so klingen, wie das Werk final wohl klingen sollte; manchmal nämlich verzichtet Nuber bewusst auf besonders idiomatische Phrasierungen (die er aber auch beherrscht!) zu Gunsten einer Beleuchtung bestimmter kompositorischer Phänomene. Man kann bei diesen Aufnahmen also einem großartigen, mutigen und teilweise visionären Pianisten beim Nachdenken zuhören, und meint manchmal sogar in die Geheimkammern des Komponierens selbst vorzudringen.
Jeder noch so kritischen Einschränkung ist demnach ein großes Aber entgegenzusetzen; somit bleibt mir letztlich nichts anderes übrig, als dem gesamten Zyklus fünf Sterne zu geben. Mutigen Hörern sei dieses Beethoven-Abenteuer – in Anspielung auf Nubers Instrument – feurich-st empfohlen!